Erstes Nationales Symposium zur Neunten Kunstform

Basel, den 25. Oktober 2019 

«Sammeln / Forschen / Teilen»

Wir alle hier, ForscherInnen und Fachleute, möchten auf ein fundiertes Fachwissen zur Geschichte des Comics zurückgreifen können.

Wenn also der Comic eine Geschichte hat, hat diese wiederum auch eine Geschichte. Ich möchte damit sagen, dass sie heute nicht mehr so geschrieben und gedacht wird wie es vor mehr als fünfzig Jahren die Pioniere des Comics taten.

Wenn sich die Art und Weise, wie wir die Comic-Geschichte wahrnehmen, geändert hat, und auch wie sich ihr Platz in der Entwicklungsgeschichte der Techniken, Kunstformen und Popkulturen gewandelt hat, dann ist dies unter anderem darauf zurückzuführen, dass Orte wie das Cartoonmuseum Basel, das diese Tagung organisiert, oder die «Cité de la bande dessinée et de l’image» in Angoulême, für die ich arbeite, seit mehreren Jahrzehnten eine Politik der Sammlung, Erhaltung und Erschließung des Comic-Erbes betreiben.

Im Anschluss an die erste Internationale Tagung der Comic-Museen, die ich im Jahr2001 organisiert hatte, veröffentlichten wir einen Tagungsband. Dieser umfasste sechsundzwanzig öffentliche und private Einrichtungen auf der ganzen Welt, die sich der Sammlung und der Bewahrung von Sammlungsbeständen zum Comic und zur Karikatur widmen. Inzwischen sind manche dieser Einrichtungen geschlossen worden, wie beispielsweise das International Museum of Cartoon Art von Boca Raton in Florida. Dafür sind zahlreiche neue entstanden. So wurde in Löwen, Belgien, das Hergé-Museum und das Marc-Sleen-Museum in Brüssel ins Leben gerufen. Bald soll die Eröffnung des Museums für Philippe Gelucks Katze sowie eines privaten Museums auf Initiative der «Fondation Boon pour les arts graphiques narratifs» (Stiftung Boon für narrative Zeichenkunst) gefeiert werden.

Der Comic wird manchmal nicht mehr als eigenständiger Bereich betrachtet, eher als eine mögliche Ausdrucksform eines grösseren Ganzen. Ich denke da an das «Musée Art Ludique» (Museum für Unterhaltungskunst), das 2013 in Paris, an den Ufern der Seine eröffnet wurde. Hier fand unter anderem im Jahr 2017 die Ausstellung «L’Art de DC, l’Aube des Super-Héros» (DC Comics Verfilmungen, die Geburt der Superhelden) statt. Derzeit ist das Museum jedoch vorübergehend geschlossen, da nach neuen Räumlichkeiten gesucht wird. Zudem wäre da noch das Lucas Museum of Narrative Art von George Lucas zu erwähnen, das 2021 in Los Angeles eröffnet werden soll und dem Comic passenden Raum bieten wird.

Die Art und Weise wie Werke gesammelt werden, hat sich seit dem Anfang der 1990er Jahre, als ich die Museumssammlung in Angoulême aufbaute, gravierend geändert. Es gab damals noch keine ausgewiesenen Galerien in Paris, nur einige Buchhandlungen mit neueren oder älteren Beständen, die neben dem Verkauf von Büchern, auch mit Originalen handelten. Versteigerungen von Comics waren da noch ganz neu. Um Bestände zu schaffen, musste man sich damals direkt an die KünstlerInnen wenden oder, wenn diese nicht mehr lebten, an ihre RechteinhaberInnen. Ich erinnere mich, einige Witwen besucht zu haben.

Heute organisieren die grossen Auktionshäuser (Christie’s, Sotheby’s, Artcurial) sehr regelmäßig Auktionen in Paris. Im Jahr 2015 gab es allein 89 Comic-Auktionen in der französischen Hauptstadt. Auf Comic spezialisierte Galerien gibt es mittlerweile fünfzehn an der Zahl. Die im März 2014 bei Christie’s organisierte Auktion war, scheint mir, die erste, die einen Umsatz von über einer Million Umsatz erzielen konnte. Die Werke einer Handvoll Autoren (Hergé, Bilal, Uderzo, Franquin, Pratt…) erreichen Preise, die für öffentliche Einrichtungen unbezahlbar sind, da sie nicht mit ausreichenden Mitteln für ihre Anschaffungspolitik ausgestattet sind. Der Markt ist in die Hände privater Betreiber gelangt, großer Sammler von denen einige wohl bekannt sind (in Frankreich sind das nach wie vor Michel-Edouard Leclerc und Bernard Mahé; in Belgien: Philippe Boon oder Thomas Spitaels) und von denen einige darüber nachdenken, einen Ausstellungort zu eröffnen, an dem ihre Sammlung der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden könnte.

Viele regional bedeutsame Museen oder Bibliotheken, die in ganz Frankreich verteilt sind, bewahren allerdings Bestände, die sich entweder einem Autor oder einer Autorin (Benjamin Rabier in la Roche-sur-Yon), einem Thema (Comics über den 1. Weltkrieg in Aubreville, in der Meuse) oder einem Format (den volkstümlichen Bilderbogen, im Bildermuseum in Epinal) widmen. Pierre Lungheretti, Generaldirektor der Cité d’Angoulême, sprach sich in seinem Bericht vom Januar 2019 an den Kulturminister für eine ausführliche Inventarliste der gesamten existierenden Bestände aus, und für eine landesweite Vernetzung durch die Schaffung einer Datenbank, die wissenschaftliches Arbeiten und Koproduktionen von Ausstellungen erleichtern soll.

Gleichzeitig stellt sich eine ganze Generation von Comic-AutorInnen am Ende ihrer Karriere die Frage nach der Bewahrung und der Weitergabe ihrer Werke. So wurden die Stiftung Edgar P. Jacobs – die sich heute wegen Veruntreuung auf dem Prüfstand befindet – und das Institut René Goscinny begründet. Andere AutorInnen übergeben umfangreiche Schenkungen an Institutionen, die die Gesamtheit oder einen signifikanten Teil ihres Schaffens ausmachen: François Schuiten hat den Großteil seiner Originale zwischen der Fondation Roi Baudouin und der Bibliothèque nationale de France aufgeteilt. Diese wiederum hat von Uderzo drei vollständige Astérix-Alben erhalten. Auch die Cité in Angoulême erhält Erbschaften oder Schenkungen von AutorInnen, wie neulich von Edmond Baudoin, Frédéric Boilet, François Bourgeon oder auch Annie Goetzinger.

Wenn der Begriff «Erbe des Comics» auf alles, was sammelnswert ist, ausgedehnt wird, dann umfasst er natürlich auch Druckbestände. Das Centre BD der Stadt Lausanne oder das International Manga Museum in Kyoto, um nur diese zwei Einrichtungen zu nennen, haben ausserordentlich umfangreiche Sammlungen von Druckwerken zusammengestellt.

Diese Sammlungen eignen sich für eine Erweiterung durch dokumentarische Bestände wie beispielweise die Archive der Herausgeber (Etienne Robial und Florence Cestac haben als Erste das Archiv des Hauses Futuropolis, erste Epoche (1974-1987), der Cité geschenkt) und durch private Archive mancher ForscherInnen und/oder Fachleute (die Cité hat unter anderem die persönlichen Archive in Gänze oder in Teilen von Jean-Pierre Dionnet, Pierre Couperie, Annie Baron-Carvais, Jacques Dutrey und mir selbst erhalten).

Aktuell befinden wir uns in einer Phase stark anwachsender Sammelbestände und Orte, die sich ihrer Sammlung und Bewahrung widmen. Was fehlt, sind eher die menschlichen Ressourcen, die zur Inventarisierung und Verarbeitung dieser Sammlungen, zur Digitalisierung – wenn möglich – und natürlich zu ihrer Zugänglichmachung im Netz notwendig sind. In diesem Sinne sammeln und stapeln wir, immer mit dem Gedanken im Hinterkopf, dass es später nützlich sein wird, und von Zeit zu Zeit tauchen wir in die ausufernde Masse an Archivmaterialien ein. Der Zunft der PraktikantInnen sei hier herzlich gedankt!

Das bringt mich zur Frage nach der Erschließung. Festivals haben, wie wir wissen, eine sehr wichtige Rolle dabei gespielt. Sie haben dazu beigetragen, Comics zu legitimieren; sie bekannter zu machen und die Aufmerksamkeit der Medien auf sie zu lenken. In letzter Zeit haben große Museen ohne fachlichen Bezug dies übernommen und sich für das Thema Comics geöffnet, wobei sie Ausstellungen von Format auf die Beine gestellt haben. Das Centre Pompidou, der Grand Palais, das Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris, das Musée des arts et métiers, die Maison Rouge, die Cité de l’architecture et du patrimoine und das Musée d’art et d’histoire du Judaïsme sind einige der wichtigen Häuser in Paris, die der neunten Kunstform in ihren Räumlichkeiten einen gebührenden Rahmen gegeben haben, wie auch andere Ausstellungsorte unter anderem in Lyon, Cherbourg oder Landerneau. Der Louvre und das Musée d’Orsay veröffentlichen Albensammlungen in Zusammenarbeit mit dem Verlag Futuropolis.

Ich habe im Laufe der Jahre immer darauf bestanden, dass der Comic zwei untrennbare Aspekte aufweist: Er ist einerseits eine Buchkunst, eine Literaturform, und andererseits eine Bildkunst, eine Zeichenkunst. Heute erleben wir die bemerkenswerte Entwicklung, dass der Comic eine zweifache Anerkennung, eine doppelte Förderung dieser zwei Seiten erhält. 

1. Als Literaturform: Das Comic-Buch hat als «Grafic Novel» einen zunehmend sichtbaren Platz eingenommen. Es wurde den ZeichnerInnen ermöglicht, ihren Ideen in allen Genres freien Lauf zu lassen und ihren Erzählungen die von ihnen gewünschte Fülle zu geben. Literarische Herausgeber wie Gallimard oder Actes Sud, um nur diese zu nennen, haben eigenständige Kollektionen geschaffen. In Frankreich ist der Comic mit dem Jugendbuch und den Büchern zur «persönlichen Weiterentwicklung» eine der Sparten, die erfolgreich läuft und der Verlagswelt ermöglicht, in einer Zeit des Leser-Rückgangs das Gesicht zu wahren. Dies beweist unter anderem, dass der Comic den Status als literarisches Genre vollumfänglich erlangt hat und dass ZeichnerInnen inzwischen als wahre AutorInnen betrachtet werden. Riad Sattouf selbst war 2019 Vorsitzender der Jury des prestigeträchtigen Prix du Livre Inter zur Nominierung eines Romans.

2. Als grafische und plastische Kunstform: Während die Zeichnung in der Kunstwelt wieder ein allgemeines Revival erlebt, wird der Comic immer mehr als ein «Format» der zeitgenössischen Kunst wahrgenommen, in gleichem Masse wie auch Performances, Videokunst, oder Installationen. Manche AutorInnen erleben inzwischen eine zweifache Karriere, als BuchautorInnen und als ErschafferInnen von Gallery Comics oder großformatigen Werken (Gemälden, Siebdrucken) für den Kunstmarkt (in Frankreich: Bilal, Gerner, Blanquet, Loustal, Killoffer, Hyman oder de Crécy, um nur einige zu nennen). Sie werden von GaleristInnen unterstützt (früher Christian Desbois, jetzt Anne Barrault oder Huberty & Breyne), von HerausgeberInnen von Druckgrafiken (MEL Publishers) sowie über Fachmessen (Drawing Now). Darüber hinaus ist der Comic eine ernstgenommene und oft genannte Inspirationsquelle für plastisch Gestaltende (hauptsächlich für diejenigen der Generation nach 1968), wie zum Beispiel für ModeschöpferInnen (Jean-Paul Gaultier, Thierry Mugler, Jean-Charles de Castelbajac oder Jeremy Scott, um nur einige zu nennen).

Nathalie Heinich, unsere beste Soziologin der Kulturgeschichte Frankreichs, sieht in dieser Dualität (sie schreibt «Zeichnung oder Literatur?», aber man sollte und anstelle von oder schreiben) auch die Besonderheit des Artification-Prozesses, der sich auf den Comic bezieht. 

Mit immer zahlreicheren Comic-Ausstellungen tendieren Museen, Galerien und Festivals dazu, den plastischen Aspekt des Mediums stark hervorzuheben; sie verstärken die visuelle und grafische Dimension zulasten der narrativen und literarischen Dimension, die nur durch den Lesevorgang erfahrbar wird. Als mich die Stiftung Jan Michalski in Montricher (Kanton Waadt) im Jahr 2018 mit einer Ausstellung zum Grafic Novel beauftragte, hatten wir uns bemüht, gegen den Strom zu schwimmen, und eine Ausstellung zusammenzustellen, die vorwiegend aus frei zugänglichen Büchern bestand.

Der schweizerisch-spanische Zeichner und Theoretiker LL de Mars hat im Januar 2019 ein Pamphlet mit dem Titel Den Comic ausstellen? veröffentlicht.Er vertritt darin die Vorstellung, dass es abwegig und nicht sachdienlich sei, Comics auszustellen, dass wenn der Comic eine Kunstform sei, er als zeitgenössische Kunst ausgestellt werden solle, und zwar in einem kritischen Verhältnis zum Schaffensprozess, zur politischen Dimension, und mit einer räumlichen Inszenierung, die Zeitlichkeit und Diskursivität zum Thema macht. LL de Mars lehnt billige und redundante Effekte der Inszenierung ab, die seiner Meinung nach nur die Originale «spektakulisiert».

Auch wenn wir nicht unbedingt derart radikal sind, wissen wir alle als hauptberufliche AusstellungsmacherInnen, dass dieser Ansatz überhaupt nicht selbstverständlich ist und alle Arten von Fragen aufwirft in Bezug auf das Wesen des Comics, seiner Eigenschaften und seiner Eignungen.

Darüber hinaus sind die mit der Konservierung von Papierarbeiten verbundenen Einschränkungen eine Hürde, die das Zirkulieren von Ausstellungen behindert und unter anderem Koproduktionen sehr problematisch macht. 

Mit der Verbreitung von Comics in den Medien werden auch andere Dinge vorangetrieben, insbesondere die Digitalisierung der Bestände. Hier ist die Hürde eine andere, sie betrifft die Verfügbarkeit der Rechte. In der Tat ist eine Institution oder ein Museum, das ein Original seiner Sammlung digitalisiert, der Besitzer des Objekts, aber die Vervielfältigungsrechte des Werkes gehören ihm dennoch nicht. Sie gehören weiterhin dem Künstler, dem Herausgeber, dem er sie anvertraut hat, wenn der Titel noch verwertet wird, oder seinen Rechteinhabern. In Angoulême blockiert diese Hürde seit zwanzig Jahren den freien Online-Zugang zu den Museumssammlungen. Dennoch konnten manche Bestände wichtiger AutorInnen (wie Caran d’Ache, Benjamin Rabier, Louis Forton, Alain Saint-Ogan oder Will Eisner – die Mehrheit von ihnen ist dabei in öffentlichem Besitz) sowie Bestände von älteren Zeitschriften, dank einer Partnerschaft mit der Bibliothèque nationale de France in sehr hoher Auflösung digitalisiert und zugänglich gemacht werden. Die Bestände von gedruckten Dokumenten sind meistens bereits digitalisiert und werden von den HerausgeberInnen selbst der Öffentlichkeit angeboten. Dies ist insbesondere in den USA der Fall, wo man alle «historischen» Episoden der großen Serien der Verlage DC oder Marvel online lesen kann. So baut sich ein immer größeres immaterielles Comic-Erbe auf. Unweigerlich werden wir aber mit dem allgemeinen Problem der Veralterung der Speichermedien konfrontiert werden.

Die Verbreitung von Comics in den Medien geschieht schließlich auch über Veröffentlichungen. Man kann nur staunen über die zahlreichen Neuauflagen von historischen Ausgaben im französischen Sprachraum. Die meisten klassischen Serien im französisch-belgischen Comic der Nachkriegszeit werden seit einigen Jahren in aufwendigen Gesamtausgaben mit ausladendem kritischem Apparat aufgelegt. Das Verlagshaus Dupuis betreibt in dieser Hinsicht eine besonders entschiedene Politik.

Diese Tendenz ist für die «Riesen» der französisch-belgischen Tradition äußerst profitabel. Ich denke da an die laufende Veröffentlichung der ersten Arbeiten von Uderzo (Verlag Hors Collection) und seiner Skizzen für Astérix («La collection», bei Albert-René), an die Kollektion «Hergé, le feuilleton intégral» (Moulinsart/Casterman) mit der man das gesamte Oeuvre Hergés Seite für Seite und in der Originalversion (die als Serie in der Presse erschienen ist) entdecken kann. Aber auch an die verschiedenen Ausgaben, die bei Marsu-Productions, Rombaldi und Dupuis dem Zeichner Franquin gewidmet sind.

Und die amerikanische Sparte kommt dabei nicht zu kurz, denn in den letzten Jahren kamen neue, viel aufwendiger gestaltete Ausgaben von Klassikern heraus wie Flash Gordon, Terry et les pirates (Bdartiste), Peanuts (Dargaud), sowie eine bemerkenswerte Gesamtausgabe der Sundays of Krazy Kat (Les Rêveurs) und Bände von Pogo (Akileos), Polly and Her Pals, Nancy und Barnaby (Actes Sud-L’An 2), nicht zuletzt auch die Gesamtausgaben von Carl Barks und Don Rosa (Glénat) – um nur einige Titel zu nennen. Der Comic hat also aufgehört die Kunstform zu sein, von der einige von uns damals beklagten, dass sie lange Zeit wegen der Nachlässigkeit der Herausgeber «ohne Gedächtnis» geblieben sei. 

Im Prozess zur Legitimierung des Comics, zu seiner Erschließung als Kunstform und zu einer besseren Kenntnis seiner Geschichte haben also alle Akteure der Sparte eine aktive Rolle zu spielen: öffentliche Hand, Ausstellungshäuser, Universitäten, Herausgeber, Medien etc. Dabei sollten sie sich auf die Gemeinschaft der SammlerInnen und Fans einerseits und die der AutorInnen andererseits stützen.

In Frankreich erwachte das Interesse der öffentlichen Hand für den Comic  im Jahr 1983. Damals kündigte Jack Lang, Minister für Kultur im Kabinett François Mitterrands, an, fünfzehn Maßnahmen zur Förderung des Comics umsetzen zu wollen. Eine davon war die Eröffnung des Comic-Museums, eine andere die Gründung eines Lehrgangs zum Comic in der Kunstschule Angoulême. Seit diesem ehrgeizigen Plan – der unter anderem den Zugang für AutorInnen und HerausgeberInnen von Comics zu Fördermittel ermöglicht hat, die bislang nur der literarischen Sparte vorbehalten waren – hat es keine bemerkenswerten Änderungen der staatlichen Politik gegeben. 

Die 2015 auf Initiative mancher AutorInnen (Benoît Peeters, Denis Bajram, Valérie Mangin) einberufene Generalversammlung der Comic-Szene hat allerdings nach einer Befragung von 1.500 unter ihnen eine beunruhigende Verarmung der Kreativen aufgedeckt, die genauso den Folgen der Überproduktion wie der Verschärfung mancher sozialer Maßnahmen geschuldet ist. Zeichnerinnen sind am härtesten betroffen: 50 % von ihnen leben wohl unter der Armutsgrenze. Also haben die AutorInnen einen starken Druck auf die staatlichen Stellen ausgeübt. Dies führte zum bereits erwähnten Lungheretti-Bericht, der auf Antrag von Françoise Nyssen, damals Ministerin für Kultur, verfasst wurde. Ihr Nachfolger auf diesem Posten, Franck Riester, sollte ihn dann zur Umsetzung bringen. Er hat bereits eine der empfohlenen Hauptmaßnahmen aufgegriffen, die da lautet, das Jahr 2020 zum «Jahr des Comics» in ganz Frankreich zu erklären. Zum hiesigen Zeitpunkt ist das ausführliche Programm dieser Maßnahme noch unbekannt. Sie wird von den Behörden des Ministeriums, dem Centre national du livre und der Cité de la bande dessinée geleitet. Aber wir wissen, dass zwölf Festivals zusätzliche Mittel erhalten werden, dass sechs große Ausstellungen in Paris und in der Provinz von öffentlichen Fördermitteln finanziert werden sollen, dass der Comic in grosse Ereignisse wie die Tour de France, das 24-Stunden-Rennen von Le Mans oder die Messe für Landwirtschaft eingebunden werden soll, dass eine Reihe von lokalen Initiativen beworben werden sollen, und dass Fördermaßnahmen zugunsten der AutorInnen und der gesamten Branche angekündigt werden sollen.

Diese ehrgeizige Initiative zeugt von einer gewissen Entschlossenheit des französischen Staates, dessen Engagement zugunsten des Comics wohl weltweit einzigartig ist. 

Man kann hier einen Vergleich mit einem ganz anderen Ansatz der japanischen Regierung im Rahmen des Soft Power-Konzepts «Cool Japan» ziehen. Die Kulturindustrie gilt in Japan als einer von fünf Bereichen für potenzielles Wachstum und als Vehikel der globalen Einflussnahme. Mangas und Animes gehören zusammen mit der Gastronomie zu den wichtigsten Kulturträgern. Doch die japanische Kulturpolitik verfolgt eine streng expansive Ausrichtung: Es geht nicht darum, das Kunstschaffen an sich zu stimulieren, das Erbe zu erschließen oder die AutorInnen zu schützen, sondern allein darum, die ausländische Nachfrage nach japanischen Kulturgütern zu steigern.

Ich möchte jetzt im letzten Teil meines Beitrags insbesondere auf den Bereich der Forschung eingehen.

Comics werden im Unterricht an französischen Universitäten nach wie vor sehr marginal behandelt; ehrlich gesagt, fehlen diese Inhalte fast vollständig. Als Studienobjekt können sie immerhin ein Schattendasein neben anderen Interessensschwerpunkten mancher interdisziplinärer Teams führen, wie zum Beispiel dem STIH an der Sorbonne unter Leitung von Jacques Dürenmatt, dem INTRU in Tours unter Federführung von Laurent Gerbier oder dem FORELL in Poitiers. Im Jahr 2019 hat das prestigeträchtige Festival des Arts, das in Fontainebleau vom Nationalen Institut für Kunstgeschichte organisiert wird, zum ersten Mal dem Comic in seinem Vortrags- und Austauschprogramm einen Platz eingeräumt. Keine einzige dieser Forschungseinrichtungen verfügt jedoch über Fachwissen bezüglich der neunten Kunstform. Die Universität Lausanne hingegen hat beispielsweise eine Studiengruppe zum Comic (GREBD) eingerichtet, die aus fünf Lehrkräften der Fakultät für Literatur besteht, an der Uni Lüttich gibt es die Gruppe ACME.

Der sicherste Nachweis zur intensivierten Forschungsarbeit auf diesem Gebiet ist der zahlenmäßige Anstieg der Doktorarbeiten, die sich dem Comic widmen. Zwischen 2010 und 2014 (der letzte Zeitraum über den ich vollständige statistische Daten besitze) wurden etwa 32 Dissertationen in Frankreich verfasst, also etwas mehr als 6 pro Jahr, was eine signifikante Steigerung gegenüber den vorherigen Jahren darstellt. In der Durchsicht ergibt sich, dass die entsprechenden Fachgebiete sehr weit gestreut sind: 40 % der Doktorarbeiten wurden in französischer Literaturwissenschaft, Linguistik oder Vergleichender Literaturwissenschaft verfasst, aber die Institute für Geschichte, Kunstgeschichte, Bildende Künste, Informations- und Kommunikationswissenschaften, Philosophie und Erziehungswissenschaften sind ebenfalls vertreten.

Bemerkenswert ist, dass die Comic-AutorInnen, die einen Teil ihrer Tätigkeit der Lehre in ihrem Fachgebiet widmen, inzwischen auch bereit sind, eine Tätigkeit als WissenschaftlerIn anzustreben und hierfür einen akademischen Titel zu erwerben, indem sie sich als DoktorantIn einschreiben. So der Fall bei Benoît Preteseille und Johanna Schipper. Beide sind Lehrkräfte am EESI, wie zuvor Jean-Christophe Menu.

Ein sehr ehrgeiziges Programm, das für die Region Nouvelle Aquitaine entwickelt wurde, heißt «MédiaBD». Zu den Projektpartnern gehören der Conseil Régional, die Universitäten von La Rochelle und Bordeaux-Montaigne, die Cité de la bande dessinée und das EESI. Ziel ist es, die Gesamtheit aller Studienzeitschriften über Comics, die in französischer Sprache in den letzten 50 Jahren veröffentlicht wurden, Seite für Seite zu digitalisieren, sie zu indizieren und diese Datenbank öffentlich zugänglich zu machen. Dies müsste in wenigen Monaten der Fall sein, das Digitalisierungsprojekt ist bereits fast abgeschlossen. Wir werden also über ein wunderbares Forschungsinstrument verfügen, das sicherlich sehr wertvoll sein wird.

Ich habe meinen Beitrag mit dem Gedanken eingeleitet, dass unsere Auffassungen zur Geschichte des Comics sich stetig weiterentwickeln. Abschließend möchte ich Folgendes sagen: Es überrascht mich, dass die Probleme zur Methodik, die dem Comic eigen sind, nicht diskutiert werden und auch nicht Thema einer gemeinsamen Reflektion sind. So ist es vermutlich ein Zeichen der Unreife unseres Forschungsgebietes, dass wir es vermeiden, diese Frage offen zu stellen: Wie soll, wie kann die Geschichte des Comics geschrieben werden? Warum gibt es keine Diskussionen innerhalb der Forschergemeinde, wie dies bei anderen Themen der Fall ist. Ich denke da beispielsweise an Fragen zur Periodisierung. Welche Ereignisse gibt es, die aussagekräftige Zeitfenster in der Geschichte der neunten Kunstform ausmachen? Wie können diese Paradigmen und diese zahlreichen, heterogenen und kulturellen Abfolgen – die Entwicklung der Drucktechniken, das Entstehen verschiedener aufeinander folgender Formate, das Bestehen von Verlagsstrukturen und Magazinen, internationale Wechselbeziehungen zur gegenseitigen Befruchtung der verschiedenen Traditionen – zur Sprache gebracht werden? Wie soll all dies mit der Geschichte der Genres, der Themen, der Stile, der Öffentlichkeit, der Wahrnehmung seitens der Fachleute und der Allgemeinheit sowie der Dialoge mit anderen Ausdrucksformen in Verbindung gebracht werden? Was gibt es über diese zweifache Wandlung im Lauf der letzten zwei Jahrzehnte zu sagen, innerhalb derer die gezeichneten literarischen Werke – die seit jeher den Druckmedien verpflichtet waren – die Bildschirme und Ausstellungsräume erobert haben?

Treffen wie das hiesige Symposium, das uns heute zusammenbringt, werden, so hoffe ich, dazu beitragen, dass wir die konkreten Maßnahmen zur besseren Bewahrung und Erschließung des Comic-Erbes weiterentwickeln und diese Reflexionsarbeit gemeinsam angehen.

Thierry Groensteen

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